Pressemitteilungen 2013

MPIA Pressemitteilung Wissenschaft 2013-01-30


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TW Hydrae: Zuwachs bei der uns nächsten Planetenkinderstube

Mithilfe des ESA-Weltraumteleskops Herschel hat eine Gruppe von Astronomen, zu der auch Thomas Henning vom Max-Planck-Institut für Astronomie gehört, auf neue Weise die Masse der Planetenkinderstube TW Hydrae bestimmt – in 176 Lichtjahren Entfernung das uns nächste derartige Objekt und damit für Studien zur Planetenentstehung besonders wichtig. Der neue, deutlich genauere Wert für die Masse ist größer als frühere Schätzungen und zeigt, dass in diesem System Planeten ähnlich denen unseres Sonnensystems entstehen können. Die Ergebnisse werden in der Ausgabe vom 31. Januar der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Abbildung 1: Künstlerische Darstellung der Gas- und Staubscheibe um den jungen Stern TW Hydrae. Neue Messungen mit dem Weltraumteleskop Herschel, an denen auch Thomas Henning vom MPIA beteiligt war, haben für die Scheibe jetzt eine größere Masse ergeben als zuvor angenommen.

Bild: Axel M. Quetz (MPIA)
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Was den Ägyptologen ihr Stein von Rosette und Genetikern ihre Fruchtfliegen, das ist den Astronomen, die sich mit der Entstehung von Planeten befassen, TW Hydrae: Ein besonders gut zugängliches Schlüsselobjekt, das die Grundlagen eines ganzen Fachgebiets legen kann. TW Hydrae (abgekürzt TW Hya) ist ein junger Stern mit ungefähr derselben Masse wie die Sonne. Umgeben ist er von einer protoplanetaren Scheibe aus dichtem Gas und Staub, in der kleine Staub- und Eisbröckchen zu immer größeren Gebilden zusammenklumpen, bis am Ende ganze Planeten entstehen. Auf solche Weise ist vor mehr als 4 Milliarden Jahren auch unser eigenes Sonnensystem entstanden.

Das Besondere an der Scheibe von TW Hydrae ist ihre astronomisch gesehen geringe Entfernung von nur 176 Lichtjahren – alle weiteren uns bekannten Scheiben sind mehr als zweieinhalb soweit von der Erde entfernt. Damit ist die Scheibe von TW Hydrae den Beobachtungen konkurrenzlos gut zugänglich. Direkte Bilder können die Astronomen davon zwar aufgrund der Größenverhältnisse nicht anfertigen; durch die Untersuchungen des Lichts des Systems bei unterschiedlichen Wellenlängen (sprich: Untersuchungen des Spektrums) und den Vergleich der dabei gewonnenen Daten mit Modellen lassen sich die Anwesenheit und wichtige Eigenschaften der Scheibe aber gut erschließen.

Entsprechend besitzt TW Hydrae eine der am häufigsten beobachteten und am gründlichsten untersuchten protoplanetaren Scheiben überhaupt. Umso ärgerlicher, dass einer der grundlegenden Parameter der Scheibe bislang nur sehr ungenau bekannt war: die Masse des in der Scheibe enthaltenen Gases aus Wasserstoffmolekülen. Dieser Massenwert ist entscheidend, um abzuschätzen, wieviele und welche Sorten von Planeten in der Scheibe entstehen können.

Bisherige Versuche, die Masse zu bestimmen, hingen empfindlich von Modellannahmen ab. Die Werte, die sich dabei ergaben, umfassten entsprechend einen größeren Bereich: die Abschätzungen für die Masse des molekularen Wasserstoffs in der Scheibe variierten zwischen einer halben und mehr als 60 Jupitermassen. Die neuen Messungen nutzen aus, dass es bei den Wasserstoffmolekülen selbst subtile Unterschiede gibt: Einige wenige Moleküle bestehen nicht aus zwei normalen Wasserstoffatomen, sondern enthalten ein Deuteriumatom (während der Atomkern von Wasserstoff nur aus einem einzigen Proton besteht, enthält Deuterium ein zusätzliches Neutron). Aufgrund dieses feinen Unterschieds ist die Infrarotstrahlung, die mit der Rotation der Moleküle zusammenhängt, bei diesen sogenannten Wasserstoffdeuterid-Molekülen ungleich stärker als bei normalen Wasserstoffmolekülen.

Das Weltraumteleskop Herschel bietet im Wellenlängenbereich dieser Strahlung eine sonst unerreichbare Kombination aus Empfindlichkeit einerseits und Feinheit der Spektralanalyse (»spektrale Auflösung«) andererseits. Unter diesen Voraussetzungen gelang es den Astronomen, die ungewöhnlichen Moleküle nachzuweisen. Die Auswertung, zehn Mal genauer als alle vorigen Massenbestimmungen, ergaben, dass die Scheibe eine Mindestmasse von rund 52 Jupitermassen haben muss.

Altersabschätzungen für TW Hydrae führen auf Werte zwischen 3 und 10 Millionen Jahre, die für Sternsysteme mit Scheibe relativ hoch liegen. Die neuen Massenmessungen zeigen, dass trotz des hohen Alters noch genügend Materie vorhanden ist, um ein Planetensystem größer als unseres entstehen zu lassen; unser Sonnensystem ist aus einer deutlich masseärmeren Scheibe hervorgegangen.

Auf dieser soliden Grundlage und unter Einbeziehungen weiterer Eigenschaften wie z.B. der Temperaturverteilung, die sich aus Folgebeobachtungen mit dem Teleskopverbund ALMA in Chile noch deutlich genauer erschließen lassen sollte, wird es möglich sein, weit realistischere Modelle für die Scheibe von TW Hydrae zu entwickeln als bisher. Der Vergleich dieser Modelle mit den Beobachtungsdaten wiederum wird es erlauben, die gängigen Theorien der Planetenentstehung auf die Probe zu stellen.

Die Beobachtungen sind auch deswegen interessant, weil sie Einblicke bieten, wie Wissenschaft gemacht wird – und wo potenzielle Probleme des Wissenschaftsbetriebs liegen. Thomas Henning erklärt: »Dieses Projekt begann in einem Gespräch zwischen Ted Bergin, Ewine van Dieshoek und mir. Uns wurde klar, dass Herschel unsere einzige Möglichkeit war, um Wasserstoffdeuterid in dieser Scheibe zu beobachten – und damit eine Chance, die wir uns nicht entgehen lassen konnten! Wir haben aber auch gemerkt, dass wir mit diesen Beobachtungen ein Risiko eingehen würden. Eine der Modellrechnungen sagte voraus, dass wir mit Herschel überhaupt nichts sehen würden. Stattdessen waren unsere Beobachtungsdaten am Ende besser, als wir zu hoffen gewagt hatten.«

TW Hydrae ist damit ein Lehrstück für Gremien, die Forschungsmittel oder, wie in der Astronomie üblich, Beobachtungszeit an großen Teleskopen vergeben – und die dabei im ungünstigsten Falle so konservativ vorgehen, dass Antragssteller fast garantieren müssen, dass ihr Projekt erfolgreich verlaufen wird. In den Worten von Thomas Henning: »Wenn nicht die geringste Chance besteht, dass ein Projekt schiefgeht, dann dürfte es wissenschaftlich nicht besonders interessant ein. TW Hydrae ist ein Paradebeispiel dafür, wie es sich in der Wissenschaft lohnen kann, ein kalkuliertes Risiko einzugehen.«

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Kontakt
Thomas Henning (Koautor)
Max-Planck-Institut für Astronomie
Heidelberg
Telefon: (+49|0) 6221 – 528 200
E-Mail: henning@mpia.de

Markus Pössel (Öffentlichkeitsarbeit)
Max-Planck-Institut für Astronomie
Heidelberg
Telefon: (+49|0) 6221 – 528 261
E-Mail: pr@mpia.de
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Hintergrundinformationen
Die Ergebnisse wurden als E. A. Bergin et al., »An Old Disk That Can Still Form a Planetary System« in der Ausgabe vom 31. Januar der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht. Originalartikel

Die Mitglieder des Forscherteams sind Edwin A. Bergin, L. Ilsedore Cleeves (beide University of Michigan), Uma Gorty (SETI Institute und NASA Ames Research Center), Ke Zhang, Geoffrey A. Blake (beide Caltech), Joel D. Green (University of Texas, Austin), Sean M. Andrews (Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics [CfA]), Neal J. Evans II (University of Texas, Austin), Thomas Henning (Max-Planck-Institut für Astronomie), Karin Öberg (CfA), Klaus Pontoppidan (Space Telescope Science Institute), Chunhua Qi (CfA), Colette Salyk (NOAO) und Ewine F. van Dishoeck (Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik und Sternwarte Leiden).

Die Herschel-Beobachtungen waren Teil des Beobachtungsprogramms (Herschel Open Time Programme) »A New Method to Determine the Gas Mass in Protoplanetary Disks« unter der Leitung von Edwin Bergin.

Herschel ist ein Weltraumobservatorium der ESA, dessen wissenschaftliche Instrumente von einem Konsortium von leitenden Wissenschaftlern (Principal Investigators) unter europäischer Leitung und mit wichtigen Beiträgen der NASA gebaut wurden. PACS wurde entwickelt von einem Konsortium wissenschaftlicher Institute unter der Leitung des MPE (Deutschland) mit Beteiligung von UVIE (Österreich); KU Leuven, CSL, IMEC (Belgien); CEA, LAM (Frankreich); MPIA (Deutschland); INAF-IFSI/OAA/OAP/OAT, LENS, SISSA (Italien) und IAC (Spanien). Die Entwicklungsarbeit wurde finanziell unterstützt durch BMVIT (Österreich), ESA-PRODEX (Belgien), CEA/CNES (Frankreich), DLR (Deutschland), ASI/INAF (Italien) und CICYT/MCYT (Spanien).

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Fragen und Antworten

Worin bestanden die Probleme mit den vorangehenden Massemessungen?
Wenn Astronomen die Menge oder Häufigkeit eines bestimmten Stoffes nachweisen wollen, suchen sie nach Licht, das für diesen spezifischen Stoff charakteristisch ist. Für Wasserstoffmoleküle funktioniert dieses Rezept nicht, da diese Moleküle kaum Strahlung aussenden. Frühere Versuche, die Masse der protoplanetaren Scheibe zu bestimmen, verwendeten Indikatorstoffe (»Tracer«), die typischerweise mit molekularem Wasserstoff zusammen auftreten, um dessen Menge indirekt abzuschätzen: Sie beobachteten das Kohlenmonoxid in der Scheibe oder den in der Scheibe vorhandenen Staub und verließen sich dann auf Modelle und weitere Messungen, um Rückschlüsse auf die Menge des molekularen Wasserstoffs zu ziehen.

Dieses Vorgehen birgt allerdings einige Fallstricke. Abschätzungen der Masse aufgrund der Wärmestrahlung von Staubkörnern in der Scheibe beruhen auf Annahmen über den Grad der Undurchsichtigkeit (die Opazität) des Staubs; dieser Wert ändert sich drastisch, während der Staub zu immer größeren Körnern zusammenklumpt. Unsicherheiten über das Verhältnis der Gasmenge zur Staubmenge, die aus Messungen am interstellaren Medium abgeleitet sind, fließen ebenfalls ein.

Abschätzungen aufgrund der Anwesenheit von Kohlenmonoxid sind schwierig, da die Scheibe für die betreffende Sorte von Strahlung undurchsichtig ist. Beobachtungen zeigen daher nur die Oberfläche der Scheibe; wie sich diese Werte zum Scheibenvolumen verhalten, muss aus geeigneten Modellen erschlossen werden. Je nach dem verwendeten Modell ergibt sich so ein weites Spektrum an Massewerten, wie sie im Haupttext erwähnt sind (zwischen 0,5 und 63 Jupitermassen).


Wie wurden die neuen Messungen durchgeführt?
Die neuen Messungen nutzen aus, dass zwar normale Wasserstoffmoleküle keine nennenswerte Strahlung aussenden, aber dass Wasserstoffdeuterid – wie erwähnt: darin ist eines der Wasserstoffatome durch Deuterium ersetzt – im Zusammenhang mit Rotationen des Moleküls eine Million stärker strahlt als normale Wasserstoffmoleküle. Die Intensität dieser Strahlung hängt dabei von der Temperatur des Gases ab; die Temperatur wiederum wurde mithilfe von ALMA-Beobachtungen von Kohlenmonoxid erschlossen (CO J = 3 → 2).

Das Häufigeitsverhältnis zwischen Deuterium und normalem Wasserstoff scheint in unserer kosmischen Nachbarschaft weitgehend konstant zu sein, wie Beobachtungen an verschiedenen Objekten bis zu Entfernungen von rund 300 Lichtjahren zeigen (Linsky 1998). Weist man Wasserstoffdeuterid in gegebener Menge nach und rechnet anhand dieses Häufigkeitsverhältnisses um, so erhält man eine gute Abschätzung für die Gesamtmenge an molekularem Wasserstoff.

Sollten sich einige der Deuteriumatome in molekularem Eis oder in komplexeren Molekülen (z.B. polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe) verstecken, oder sollten Teile der Scheibe undurchlässig für die charakteristische Strahlung des Wasserstoffdeuterids sein, dann wird man die Menge an molekularem Wasserstoff mit dieser Methode unterschätzen. Das ist ein Grund, warum der jetzt veröffentlichte Massenwert eine Untergrenze darstellt.

Die Temperaturschätzung ist aus Kohlenmonoxid-Spektrallinien abgeleitet und damit aller Wahrscheinlichkeit zu niedrig – auf diese Weise erfasst man eben nur die äußeren Scheibenschichten; im Inneren, wo die meiste Strahlung des Wasserstoffdeuterids her stammt, sollte die Temperatur wenn, dann höher sein.

Damit gehen alle möglichen Korrekturen in dieselbe Richtung, nämlich hin zu einer höheren Masse; als Abschätzung einer Untergrenze für die Masse ist der jetzt bestimmte Wert daher sehr zuverlässig.


Warum war Herschel für diese Messungen wichtig?
Der niedrigste Rotationsübergang (J = 1 → 0) des Wasserstoffdeuterids hat eine Wellenlänge von 112 µm und liegt damit im ferninfraroten Bereich des Spektrums. Solche Strahlung wird vom Wasserdampf in der Atmosphäre absorbiert und kann deswegen nur aus dem Weltraum oder aus der Stratosphäre heraus, nicht aber vom Erdboden aus beobachtet werden. Damit kommen für die benötigten Messungen nur das Herschel-Teleskop und die fliegende Sternwarte SOFIA in Betracht.

Mit SOFIA könnten Beobachtungen dieser speziellen Spektrallinie unter besonders günstigen Bedingungen tatsächlich gelingen; allerdings wäre dazu eine sehr lange Beobachtungszeit nötig (die wohl kaum bewilligt worden wäre – insbesondere,da eines der Modelle vorhersagte, die Strahlung wäre gar nicht stark genug, als dass es realistisch gewesen wäre, sie nachzuweisen). Mit Herschel ergab sich aus der Kombination von 36 Beobachtungen mit insgesamt 7 Stunden Belichtungszeit am 20. November 2011 ein eindeutiger Nachweis der J = 1 → 0-Linie (Nachweislevel 9σ).

Für diese Beobachtungen kam das Herschel-Instrument PACS (»Photodetector Array Camera & Spectrometer«) zum Einsatz: ein Kombinationsinstrument aus astronomischer Kamera und Spektrograf für Wellenlängen zwischen 57 und 210 µm. Das Instrument wurde von einem Konsortium unter Leitung des Max-Planck-Instituts für Extraterrestrische Physik in Garching entwickelt und gebaut. Wichtige Beiträge kamen vom Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg.


Wird sich das neue Messverfahren zu einer Standardmethode entwickeln?
Linien dieser Art sind sehr schwierig nachzuweisen. Die hier beschriebenen Messungen sind erst das zweite Mal, dass es überhaupt gelungen ist, Wasserstoffdeuterid außerhalb unseres Sonnensystems nachzuweisen – die ersten solchen Beobachtungen gelangen für den Orion-Nebel mit dem ISO-Satelliten (Wright et al. 1999). Insofern dürften die neuen Ergebnisse eine Ausnahme bleiben – freilich mit weitreichenden Konsequenzen für unser Verständnis der Planetenentstehung.

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Abbildung 2: Das Weltraumteleskop HERSCHEL (künstlerische Darstellung).

Bild: ESA
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Bildmaterial

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